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22.09.2021Matthias Mölleney: Mitdenken am Thurgau der Zukunft
Es gibt erstaunliche Parallelen zwischen den Ereignissen auf dem Thurgauer Immobilienmarkt und den beruflichen Erfahrungen von Matthias Mölleney. Vor 20 Jahren war er der letzte Personalchef bei der Swissair, als die traditionsreiche Schweizer Fluggesellschaft den Flugbetrieb einstellen musste: Auf den scheinbar nicht enden wollenden Höhenflug der Airline folgten die Insolvenz und das desaströse «Grounding» – für das Personal ein Horrorszenario. Auch der Immobilienmarkt im Thurgau war davon betroffen, erinnert sich Werner Fleischmann, Inhaber und Gründer von Fleischmann Immobilien: «Viele Mitarbeitende der Swissair und von Zulieferbetrieben hatten den Thurgau als idealen Wohnort im Grünen in der Nähe zum Flughafen entdeckt. Etliche von ihnen mussten einen Hausverkauf prüfen.» Deshalb seien plötzlich zahlreiche Liegenschaften auf den Markt gekommen: «Im Herbst 2001 stockten zuerst die Transaktionen, und dann gab es Preisrückgänge.»
Massiver Wandel erwartet
Mölleney ist überzeugt, dass die CoronaKrise genauso einen «massiven Wandel» auf dem Immobilienmarkt ausgelöst habe. Besonders bewusst geworden sei ihm dies im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt «Remote Work» (Flexibilisierung des Arbeitsorts). Das Projekt wird vom Center für Personalmanagement und Führung an der HWZ Hochschule für Wirtschaft durchgeführt, das Mölleney leitet. Er sei aufgrund der aktuellen Erfahrungen und Entwicklungen überzeugt, dass Aspekte rund um Arbeit, Wohnen und Mobilität noch viel Handlungsbedarf auslösen werden. Es stelle sich nämlich nicht nur die Frage der Verkehrserschliessung, sondern auch der baulichen Auswirkungen: «Man braucht mehr Platz.» Dies bestätigt Werner Fleischmann: «Wir beobachten den Trend, dass eher grössere Wohnungen gekauft werden.» Das bedeutet: Wer früher eine 3½-Zimmer-Wohnung suchte, entscheidet sich heute eher für eine 4½-Zimmer-Wohnung. Ebenfalls gestiegen sei die Nachfrage nach einem Einfamilienhaus mit mehr Freiraum, sagt Fleischmann, weil viele für die Arbeit zu Hause mehr Platz wünschen. Mölleney hat in seiner Funktion als Zentrumsleiter an der Hochschule und Unternehmensberater die Erfahrung gemacht, dass heute sogar jene Firmen die Heimarbeit fördern, die das Homeoffice vor gut einem Jahr noch gar nicht in Betracht ziehen wollten. Umgekehrt weist Fleischmann auf die Gefahr hin, dass Arbeitsplätze mit der zunehmenden Mobilität gefährdet sein können.
Visionär vorausdenken
Diese Erkenntnisse bringt Mölleney auch in der Stiftung Think Tank Thurgau (TTT) ein, die er ehrenamtlich präsidiert. TTT hat sich seit einigen Jahren mit hoher Priorität der Digitalisierung verschrieben. An den jährlichen Wissenschaftskongressen stehen unterschiedliche Aspekte im Zentrum: letztes Jahr die Mobilität, dieses Jahr die Politik und nächstes Jahr die «smarten» Städte und Dörfer. Es sei ihm wichtig, die Auswirkungen langfristig ausgerichtet und ganzheitlich zu beleuchten – zum Beispiel mit Blick auf Gesellschaft, Wirtschaft, Wohnen, Alter oder Gesundheit. Die Digitalisierung und Vernetzung, so Fleischmann, wecke teils auch Bedenken: «Manchmal höre ich, dass Eigentümer befürchten, das Stromnetz könnte wegen dem zunehmenden Bedarf zusammenbrechen.»
Comeback dörflicher Strukturen
Mölleney kann sich aber nicht nur eine mobile, digitale oder virtuelle Welt vorstellen, denn: «Die Frage stellt sich, welche Lebensformen sich aus den heutigen Umständen heraus entwickeln werden. Ich stelle zum Teil das Comeback von Mehrgenerationenhäusern fest. Es ist schon fast wieder wie früher. Und wenn der Wohntrend weg von den Städten in die Dörfer anhält, dann bekommen dörfliche Strukturen plötzlich einen anderen Stellenwert.» Fleischmann spinnt den Faden noch weiter und wirft ein, dass autonome Fahrzeuge in der Zukunft ein Leben im Alter auch auf dem Land plötzlich in einem anderen Licht erscheinen lassen könnten. Er empfiehlt dem TTT, die Vergleiche Stadt und Landleben zu vertiefen, «denn eine Stadtmitte ohne Einkaufs und Begegnungsmöglichkeiten bringt wenig». Mölleney gibt zu bedenken: «Wenn wir Menschen im Mittelpunkt bleiben wollen, müssen wir auch bereit sein, mal einen Schritt zurückzumachen.» Dazu brauche es Mut zu experimentieren und Risiken einzugehen. Indes: «Die heute vorherrschende Vollkaskomentalität hindert uns daran.»
Sinnhaftigkeit rückt mehr im Fokus
Digitalisierung hin, Risiko her: Laut Mölleney rückt die Sinnhaftigkeit der Arbeit und des Lebens wieder vermehrt in den Fokus: «Wir haben heute die Gelegenheit, neue gesellschaftliche Schwerpunkte zu setzen und dabei die Entwicklung der Wohnregion positiv zu nutzen. Der Diskussionsstoff der Zukunft wird sich unter anderem aus dem Dreieck Politik, Gesellschaft und Wohn/Arbeitsraum herauskristallisieren.»
Think Tank Thurgau will Puls der Bevölkerung spüren
Mit der Stiftung Think Tank (Denkfabrik) Thurgau will deren Präsident Matthias Mölleney gemeinsam mit den anderen Stiftungsrätinnen und Stiftungsräten den Thurgau und dessen Zukunft neu denken. Der TTT wolle zu diesem Zweck Akteure aus allen Bereichen miteinander vernetzen. Der Wissenschaftskongress bietet jedes Jahr Forscherinnen und Forschern eine attraktive Plattform, um zukunftsträchtige Ideen zu entwickeln und miteinander zu diskutieren. Dieses Jahr findet der Anlass am 27. Oktober im Pentorama Amriswil statt. Es gehe aber ebenso darum, «die Erkenntnisse anschliessend der Bevölkerung zu vermitteln». Mit dem neuen Format des «Think Tank Thurgau Talks» sammle man seit diesem Jahr wertvolle Erfahrungen mit hybriden Veranstaltungen. Nächstes Jahr wolle man noch näher am Puls der Thurgauerinnen und Thurgauer sein: vielleicht an sogenannten Kaffeeveranstaltungen, die über Mittag in einem lokalen Café durchgeführt werden.